Erst vor knapp eineinhalb Jahren hatte der ehemalige Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr angesichts neuer Statistiken angekündigt, gegen die steigenden OP-Zahlen in Deutschland vorgehen zu wollen – geschehen ist seitdem nichts. In Maastricht, bei der Konferenz des World Institutes of Pain, die zweijährlich an wechselnden Orten auf der ganzen Welt stattfindet, diskutierten jetzt 200 leitende Mitglieder einer der weltweit wichtigsten Schmerztherapie-Fachorganisationen, über neue Therapieverfahren und den Status Quo in den einzelnen Ländern. Ergebnis: Deutschland gehört derzeit mit jährlich über 400.000 Rückenoperationen zu den Spitzenreitern Europas – nirgendwo wird häufiger operiert. Und nirgendwo steigt die Anzahl drastischer an.
Milliardengrab im Gesundheitssystem
In dem Brief weist das World Institute of Pain nicht nur auf die Ursachen und Folgen der Fehlentwicklung hin, sondern zeigt auch Lösungsvorschläge auf, um dem Trend entgegenzuwirken. Dr. Martin Marianowicz: „Deutschland ist ein Land, in dem die Bildhörigkeit und Versorgung mit Kernspintomografen ein Ausmaß angenommen hat, das in keinem Verhältnis zum Bedarf steht. Operationen sind lukrativer als konservative Behandlungen. Neue, sanfte Therapiemethoden sind im Behandlungskanon der deutschen Medizin noch nicht angekommen.“ So stützt sich der deutsche Behandlungskatalog auf Ansätze, die in den 1980er-Jahren State of the Art waren, heutigen Erkenntnissen aber in keinster Weise entsprechen. Niedergelassene Orthopäden erhalten von der gesetzlichen Krankenversicherung weniger als 30 Euro pro Patient und Quartal. Mittel, mit denen eine adäquate konservative Behandlung nicht durchzuführen ist. Im Gegenzug zahlen die Kostenträger unnötige Operationen, die im Durchschnitt rund 10.000 Euro kosten – lehnen aber die Bewilligung moderner, kostengünstigerer Schmerztherapien ab. Marianowicz weiter: „Wenn man dann noch bedenkt, dass 30 bis 45 Prozent aller Rückenoperationen nicht zum Behandlungserfolg führen, wird klar, dass hier ein Ungleichgewicht entstanden ist, das angesichts einer alternden Bevölkerung das gesamte Gesundheitssystem ins Wanken bringt.“ Rund 35 Milliarden Euro verschlingen Rückenoperationen in Deutschland Jahr für Jahr. 50 Prozent aller Bandscheibenvorfälle spürt der Patient nicht einmal. Und in den meisten Fällen heilt ein Bandscheibenvorfall innerhalb von 6 bis 12 Wochen ohne bleibende Beschwerden ab. Er muss nur von einer wirksamen Schmerztherapie begleitet sein.
Europäische Nachbarn vorbildlich
Dass in Deutschland immer noch viel lieber operiert wird, hat laut World Institute of Pain auch mit der hohen Zahl von Krankenhausbetten zu tun. Hierzulande gibt es – pro Kopf gerechnet – diesbezüglich ein um bis zu 70 Prozent größeres Angebot als in anderen Nationen. Fast alle europäischen Nachbarn sind hier deutlich effizienter aufgestellt und operieren um ein Vielfaches weniger. Das Angebot schafft sich in Deutschland seinen Bedarf. Die dramatische Entwicklung hat aber auch mit dem heutigen Verständnis von Rückenschmerzen zu tun. Dr. Martin Marianowicz weiter: „Rückenschmerzen werden fälschlicherweise immer noch als physisches Phänomen betrachtet, dass die Schmerzursache oft auch psychischer Natur ist, klammert das deutsche Gesundheitssystem komplett aus.“ Das World Institute of Pain fordert von Bundesminister Hermann Gröhe deshalb neben dem Abbau von Betten auch die Einführung einer Fachausbildung zum interventionellen Schmerztherapeuten, der zugleich Ansätze aus Psychosomatik, Neurologie erlernt und in die Therapie einbringt. Außerdem müssen die Gebührenverordnungen, die zum Teil seit Jahrzehnten unverändert sind, grundlegend reformiert und um neue und wirksame Methoden wie minimal-invasive Therapien, aber auch um traditionelle Heilmethoden wie Akupunktur ergänzt werden.
Chronifizierung verhindern
Letztendlich geht es darum, kostengünstig und wirksam langjährige, chronische Rückenerkrankungen zu verhindern bzw. zu heilen, die in vielen Fällen zu Arbeitsunfähigkeit führen und jährlich einen volkswirtschaftlichen Schaden in Höhe von rund 50 Milliarden Euro verursachen. Marianowicz: „Hier müssen sich Politik, Versicherungswirtschaft und Medizin an einen Tisch setzen und die Entwicklung in Deutschland in neue Bahnen lenken.“ Dass Systemfehler und Anreizstrukturen, die über Jahrzehnte entstanden sind, nicht von heute auf morgen behoben werden können, ignoriert das World Institute of Pain bei seiner Forderung nicht. Es müsse aber, wie es im Brief an Gesundheitsminister Gröhe heißt, ein „Umdenkprozess angeschoben werden, der die Voraussetzungen für eine nachhaltige Reformierung des Systems herstellt.“ Die neue Bundesregierung habe als große Koalition die Möglichkeit, auch große Schritte zu gehen.
Marianowicz: „Im Sinne aller Rückenpatienten in Deutschland und zum Wohle der Solidargemeinschaft hoffen wir, dass das Gesundheitsministerium seine Verantwortung annimmt und rasch Schritte einleitet. Moderne Therapieverfahren, weniger Operationen und ein neues Eingehen auf die Bedürfnisse der Patienten – das ist es, was man von einem führenden Industrieland wie Deutschland erwarten kann.“
Der Originalbrief an Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe liegt dieser Presseinformation bei.